Mit viel Gefühl und Augenmass

Die Spanten halten den Schiffsrumpf zusammen. Das Langschiff «füllt» Urs Kohlers Werkstatt. Bild: Urs Oskar Keller

WEIDLINGE.  Die schlanken Holzschiffe sind im Raum Schaffhausen ein Stück Kulturgut. Mit viel Geschick bauen Urs Kohler und sein Team seit 2002 Weidlinge aus Massivholz. Derzeit stellen sie erstmals ein Langschiff her. Der Limmat-Club Zürich hat den 15-Meter-Kahn bestellt.

In den Kantonen Schaffhausen, Thurgau und Zürich sind rund 600 Weidlinge zugelassen. Allein in der Weidlingshochburg Schaffhausen bewegen sich rund 380 Exemplare der schlanken Boote über den Rhein.

Urs Kohler (57) freut sich über das grosse Interesse an den klassischen Holzschiffen. Der Inhaber der Firma Kohler Zimmerei & Holzbau baut jeden Winter in seiner Werft in Thayngen SH sieben Weidlinge. Er stellt zwar immer das gleiche Modell her, mithilfe von Schablonen. Dennoch sei jedes der rund 100 Dreiplankenboote, die er gebaut hat, ein bisschen anders, sagt er.

Weidlinge sind im Gegensatz zu Fährschiffen auf beiden Seiten verjüngt und hochgezogen (siehe Box). Das Zuschneiden des Weidlingholzes dauert eine Arbeitswoche, eine weitere die Montage. Ein Boot besteht aus den fünf Holzarten Fichte, Tanne, Lärche, Akazie und Eiche. Tropenholz wird keines verwendet. Das Vorgehen beim Bau sei wie bei der Kiellegung eines grossen Schiffs, erzählt Kohler: «Zuerst Boden und Wände ‹zusammennähen›, nachher die Spanten befestigen.» Die Spanten sind die «Rippen».

Ein Boot kostet rund 10 000 Franken

Kohlers Weidlinge wiegen rund 400 kg, sind 9,02 m lang und am Boden 86 cm breit. Die maximale Breite beträgt 1,50 m. Sie bieten Platz für acht Personen und kosten 9800 Franken. «Mit dem Zubehör erhöht sich der Preis im Schnitt auf 10 500 bis 11 000 Franken», sagt der Bootsbauer. Er stellt auch die 3 bis 4 m langen Stachel und Stehruder aus Eschenholz her. Die Stacheleisen schmiedet Metallbauer Roman Brühlmann im Nebengebäude.

Bei Urs Kohler liegt Holzgeruch in der Luft. Frisch gehobeltes Fichten- und Tannenholz ist bereit, in der Montagehalle sind Boden und Werkbänke übersät mit Spänen. Eine Türe trennt Kohlers Werft in der «Halle 7» vom Werkplatz des Möbelschreiners Christian Bareiss. Die drei Handwerksbetriebe von Kohler, Brühlmann und Bareiss teilen sich das Gebäude. Und auch sonst sind die Wege nicht weit: Die Distanz von der Werft bis zur Anlegestelle am Rhein beim «Salzstadel» in Schaffhausen beträgt 10 km.

Grossauftrag aus der Limmatstadt

Erstmals füllte in letzter Zeit ein 14,9 m langer Weidling die Werft. Das sogenannte Langschiff, ein echtes Unikat, wurde vom Limmat-Club Zürich bestellt. Das Schiff soll mit einem 60 PS starken Aussenbordmotor ausgerüstet werden und Platz für etwa 30 Personen bieten. Es wird im Sommer 2016 für die historische «Hirsebreifahrt» von Zürich nach Strassburg eingesetzt. Diese geht zurück auf den 1456 zum ersten Mal erfolgten Transport von Hirsebrei von Zürich ins Elsass. Noch heute wird auf der mehrtägigen Fahrt Hirsebrei mitgeführt und nach der Ankunft in Strassburg verteilt.

Urs Kohler, Mitarbeiter Beat Kuhn und Lehrling Tobias Hongler arbeiten seit einigen Wochen am Langschiff. Dieses ist schwerer als die kleineren Weidlinge, wiegt rund eine Tonne und besteht aus zwei Kubikmetern Holz. Das Schiff kostet 47 000 Franken und ist nächstens fahrbereit.

Urs Kohler ist gelernter Zimmermann und gründete 1993 in Schaffhausen sein eigenes Zimmerei- und Holzbauunternehmen. 2002 kaufte er in Thayngen eine Produktionshalle und übernahm von seinem Kollegen Peter Wanner aus Neunkirch SH das Geschäft und das Weidlings-Know-how, da dieser auswanderte. «Wir bauten noch gemeinsam drei Weidlinge. Der Kauf der Firma war einer meiner besten Entscheide, die ich beruflich machte. Damals baute in der Region keiner mehr solche Boote.»

Handwerkliches Gespür ist gefragt

Kohler besitzt selber einen hellblauen Weidling. Es handelt sich um einen Prototypen mit dreifach verleimten Hölzern, wie man die Boote in Österreich kennt. Das schicke Schiff ist mit Solarzellen für den Antrieb bestückt. Kohler selbst bezeichnet sich als «normalen Genussfahrer».

Weidlinge herstellen ist laut Kohler eine willkommene Abwechslung im Zimmermannsalltag. Man habe fast nur mit Holz zu tun, und es sei sehr viel Handarbeit nötig, Maschinen würden vergleichsweise wenig benutzt. «Weidlingbauer brauchen noch Stechbeitel und Augenmass», sagt Kohler. Und bei schlechtem Wetter könne man in der geschützten Werkstatt bleiben. Dass er jetzt erstmals einen extrem langen Weidling bauen könne, freue ihn besonders.

Für die feinen Unebenheiten im Holz haben Bootsbauer längst einen Sinn entwickelt. Erfahrene Berufsleute sehen sie von blossem Auge, auf einen halben Millimeter genau. Die Arbeit gleicht eher jener eines Schreiners als eines Zimmermanns. Ebenso präzise ist der Tastsinn der Bootsbauer. «Es braucht ein Gespür für Harmonie, gleichmässig verteilte Spannung und saubere Schwünge, um gute Boote zu bauen.»

Die Sägerei und Holzhandlung Hedinger AG im schaffhausischen Wilchingen liefert Kohler einheimisches Holz. «Mindestens zwei bis drei Jahre luftgetrocknetes Holz hat die optimale Qualität für die Verarbeitung», sagt der Bootsbauer. 10 m lange, 24 bis 30 mm dicke Fichten- und Tannenbretter werden in der Werft auf einer riesigen Längskreissäge für den Boden und die zwei Seiten der Weidlinge zugeschnitten.

Nach einem Jahr sind die Boote undicht

Für einen herkömmlichen Weidling benötigt man rund einen Kubikmeter Holz. Die Spanten sind aus Eiche und mit Eisenbeschlägen verstärkt. Das Tannenholz der Seitenwände und des Bodens ist grünlich. Es wurde bereits gegen Fäulnis druckimprägniert. Über 700 rostfreie Schrauben werden für einen neuen Weidling gebraucht. Wo früher Kalfater, eine Hanfschnur, zur Abdichtung in die Fugen eines Holzschiffes gestopft wurde, verwendet man heute eine 8 mm dicke Gummidichtung. «Die gekehlten und abgeschrägten Flächen der Bordwandbretter liegen stumpf nebeneinander, und unter einer schmalen Trapezleiste befindet sich eine Silikondichtung», erklärt Bootsbauer Beat Kuhn. Mit breiten Bändern und verzinkten Metallklammern aus der Heftpistole wird alles «vernäht». Die Abschlussleiste besteht aus Akazienholz. Vorne und hinten, wo die Metallringe für die Ketten eingelassen werden, gibt es noch die beiden «Schoo» genannten Hölzer. Sie sind wie die Rungen oder Spanten aus Eiche.

Im ersten Jahr sei ein Holzweidling dicht, sagt Kuhn. Danach müsse er nach dem Einwassern jeweils «verschwellt» werden. Das heisst, der Kahn wird ein bis drei Tage im Wasser «versenkt». In der Werft wird auch jährlich der Unterwasseranstrich mit der Antihaftbeschichtung in ein bis vier Lagen angebracht: «Noch setzen wir auf Kupfer als erfolgreichen, bewuchshemmenden Stoff, wobei metallischem Kupfer der Vorzug zu geben ist, da Kupfersalze leichter ins Wasser übergehen», sagt Kohler.

Unterhalb der Scheuerleiste ist ein Eichenbrett für die Signatur am Weidling angebracht. Dort steht mit einem Brandeisen eingebrannt: «Kohler Thayngen».

www.kohler-holzbau.ch

Weidling

Das Lieblingsgefährt der Schaffhauser

Der Weidling ist ein schmales, rund neun Meter langes Flachboot und gehört wie der Munot und der Rhein zur Region Schaffhausen. Auf dem Flussabschnitt zwischen Stein am Rhein SH und der Stadt Schaffhausen ist er das beliebteste Fortbewegungsmittel. Charakteristisch ist die Fortbewegungsart des traditionell motorlosen Weidlings. Weil der Fluss eine starke Strömung aufweist, kann er nur mit Stacheln oder durch Treideln (Ziehen mit Zugtieren) am Ufer entlang flussaufwärts bewegt werden.

Der Weidling wird ursprünglich aus Massivholz gefertigt, doch sind heute auch Ausführungen in Sperrholz, Kunststoff und Aluminium erhältlich. Die Firma Kohler Zimmerei & Holzbau in Thayngen stellt als letzter Betrieb in der Schweiz noch ausschliesslich Weidlinge aus Massivholz her. Die gängigen Varianten des Bootstyps – Weidling, Fähr- oder Übersetzboot und Langschiff – entwickelten sich seit dem Mittelalter aus dem Fischerweidling. Die Boote werden heute vor allem als Freizeitgeräte genutzt. Weidlinge werden oft mit dem Fährschiff gleichgesetzt. Diese haben aber ein gerades Heck, während Weidlinge auf beiden Seiten verjüngt und hochgezogen sind.

uok

Veröffentlichung: 10. September 2015 / Ausgabe 37/2015

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