Mittelalterliches Hightech

Die Teile des Dachstuhls werden in der Zimmerei nach traditioneller Art abgebunden. Bild: David Bordes

Notre-Dame.  Das abgebrannte Dach der Pariser Kathedrale wird mit mittelalterlichen Handwerkstechniken wieder errichtet. In ganz Frankreich wurden 2000 perfekt gewachsene Eichen eigens für die Rekonstruktion des Dachstuhls gefällt und herangeschafft.

Die Bilder haben wir wohl alle noch vor Augen. Vor gut vier Jahren stand halb Paris fassungslos am Ufer der Seine und starrte auf den dicken, schwarzen Qualm, der aus der Kathedrale Notre-Dame de Paris in den Himmel quoll. Die Feuerwehren hatten den Brand am Ende der Nacht unter Kontrolle. Lange war nicht klar, ob die verbliebenen Mauern standhalten würden. Man fürchtete den Einsturz. Das uralte Mauerwerk hielt stand. Der hölzerne Dachstuhl aus dem 13. Jahrhundert aber war einfach weg. Oberhalb des steinernen Sakralraums, in dem sich sonst die Touristen in Scharen drängten, ging die Kathedrale einst in eine Dachkonstruktion aus Hunderten von uralten Eichenbalken über. Damals hatte man sparsam gewirtschaftet und teilweise Hunderte Jahre alte Balken wiederverwendet. Der Dachstuhl über dem Chor und den Seitenschiffen war ein frühes Beispiel einer Hängewerkskonstruktion. Mit ihr wurden grössere Spannweiten möglich. In der Romanik waren die Dächer noch deutlich flacher. Gotische Kathedralen wie die Notre-Dame wagten steilere Dächer, und das erforderte besser gegen Windkräfte stabilisierende Konstruktionsweisen.

Wegen der ungewöhnlichen Masse an verbautem Holz wurde der Dachstuhl der Notre- Dame gern «la forêt» (der Wald) genannt. Nun bekommt sie einen neuen «Wald». Der Dachstuhl wird soeben nach uralter Handwerkskunst originalgetreu wieder errichtet. Alle Balken werden von Hand mit Säge und Beilen nach mittelalterlichen Handwerkstechniken aus den Stämmen gearbeitet. Zum Glück war seine Konstruktion gut dokumentiert, sodass man genau weiss, worauf es ankommt.

Technische Revolution des Mittelalters

Die Entscheidung für eine Rekonstruktion der Dachstühle nach fast vergessenen handwerklichen Traditionen ist durch die Qualität der ursprünglichen Bauweise begründet. Sie war ein seltenes Zeugnis einer technischen und konzeptionellen Revolution im Zimmermannshandwerk zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Durch den damals neuen Einsatz von Zapfenverbindungen wurde eine deutlich erhöhte Tragfähigkeit und eine vorher nicht denkbare Spannweite der Dachkonstruktion erreicht.

2000 perfekt gewachsene Eichen wird es für den Wiederaufbau des Dachstuhls und des Dachreiters insgesamt brauchen. Etwa 1200 sind für das Dach vorgesehen, 800 für den Dachreiter. Die Hälfte der Stämme stammt aus dem Staatsforst und gemeindeeigenen Wäldern. Den Rest steuern Privatwaldbesitzer und Gemeinden als Spenden bei. Auch die Sägereien arbeiten für diese nationale Aufgabe grossteils umsonst.

Umweltschützer sorgen sich um Eichen

Manche Umweltschützer allerdings schäumen, da es sich wegen der nötigen Masse durchwegs um prächtige, perfekt gewachsene Eichen handelt, und sprechen von «Ökozid». Da kann die Forstbehörde «Office National des Forêts» (OFN) noch so betonen, es handle sich lediglich um 0,1 Prozent des üblichen jährlichen Einschlags von Eichenholz in Frankreich. Das Land habe etwa 615 Millionen Kubikmeter Eichenholz in seinen Wäldern stehen, ein weltweit einmalig hoher Anteil. Man hole gewöhnlich 2 Millionen Kubikmeter Eichenholz dieser Qualität aus dem Wald. Jedes Jahr. Die Eichen aus den staatlichen Wäldern würden, so die OFN, nicht zusätzlich entnommen, sondern seien Teil dieser Menge.

Schrumpfung einberechnen

Die gefällten Eichen werden zwischen 12 und 18 Monate lang getrocknet, bis ihr Feuchtigkeitsgehalt unter 30 Prozent liegt. Dann liegt es in der Erfahrung der Zimmerleute, die weitere Schrumpfung beim Konstruktionsprozess einzuberechnen.

Im Moment laufen die Arbeiten am massiven Eichendachstuhl über dem Chor. Noch stehen die Teile zur Probe montiert in einem gigantischen Zelt einer Zimmerei der Ateliers Perrault im Departement Maine et Loire. Das Zelt ist so gross, «dass man unsere Dorfkirche darunter stellen könnte», amüsiert sich Jean-Baptiste Bonhoure, Chef der Firma mit 170 Angestellten, gegenüber Journalisten von «Le Monde».

Im 1800 Seelen zählenden Dorf Saint-Laurent-de-la-Plaine im Westen Frankreichs kann man also dem Dachstuhl im Moment beim Entstehen zusehen. Dass unter anderem diese Firma den Zuschlag bekommen hat, verdankt sie ihrer Erfahrung mit komplexen historischen Baustellen. Die Ateliers Perrault waren bereits am Schloss von Versailles und am Grand Palais in Paris tätig. Erfahrung mit so prestigeträchtigen wie heiklen Baustellen haben sie also aufzuweisen. Für den Auftrag hat sich Perrault mit dem Atelier Desmonts zusammengeschlossen, da es ausreichend Fachleute braucht, die noch nach alter Zimmermannskunst mit dem Breitbeil umgehen können. «Das ist die einzige Technik, bei der wir die Richtung der Holzfaser einbeziehen können. Das macht die Balken gleichzeitig flexibler und stabiler. Und eine besondere Ästhetik bekommen sie auch», erklärt Zimmermann Matteo Pellegrino gegenüber «Le Monde».

Aussergewöhnliche Länge und Höhe

Wenn er eines Tages wieder über der Notre-Dame thront, wird der Dachstuhl ein aussergewöhnlich grosses massives Eichenholzwerk mit einer Länge von 32 Metern, einer Breite von fast 14 Metern und einer Höhe von 10 Metern sein, das sechs Felder und eine halbkreisförmige Apsis bildet. Die Montage des gesamten Chorgebälks in der Kathedrale soll Anfang 2024 abgeschlossen sein. Gelingt das, so könnte die Kathedrale, wie von Präsident Emmanuel Macron erhofft, im Dezember 2024 wieder eröffnet werden.

Während des Herstellungsprozesses wird jeweils eine bemasste Zeichnung in Originalgrösse auf dem Boden der Werkstatt angebracht. Darauf werden die Teile horizontal zusammengesetzt. So lässt sich die perfekte Passung der mehr als 50 Verbindungen überprüfen. Erst wenn alles stimmt, wird die Konstruktion zur Probe in der Vertikalen aufgerichtet. Und danach erst wird sie nach Paris geschickt.

Eigens neue Breitbeile geschmiedet

Die schiere Menge des zu bearbeitenden Holzes stellte die Zimmerleute vor weitere Herausforderungen. Es gab gar nicht genug der für das Behauen der Balken nötigen traditionellen Beile. Man musste Unternehmen finden, die diese überhaupt noch herstellen konnten. Schliesslich stellten mehrere traditionelle Werkzeugschmiede in Frankreich eigens Breitbeile her sowie weitere Werkzeuge für die Grob- und Feinbearbeitung. Das Breitbeil des Zimmermanns, auch Beschlagbeil, Breitaxt oder Breitbeil-axt genannt, hat zur Besonderheit, dass eine Seite des Kopfes abgeflacht ist und der Stiel schräg zum Kopf verläuft. Es gibt eine rechte und eine linke Ausführung, denn die Schneide ist gewöhnlich nur einseitig angeschliffen.

Die Zimmerleute der modernen Arbeitsgemeinschaft rekonstruieren die Bauweise auf der Grundlage von Vermessungen, die glücklicherweise im Jahr 2014 vorgenommen wurden. Zudem werden Erkenntnisse aus der Analyse von nach dem Brand geborgenen Überresten des Bauwerks einbezogen. «Der Dachstuhl der Notre-Dame, wie er vor dem Brand bestand, stellt ein einzigartiges Zeugnis des Kulturerbes der Kunst der Handwerksgesellen im 13. Jahrhundert dar. Je länger wir uns mit ihm beschäftigen, desto besser verstehen wir, wie wichtig er als Meilenstein in der technologischen Entwicklung von Dachstühlen in dieser Zeit war», erklärt Rémi Fromont, der am Wiederaufbau beteiligte Architekt.

Ab September wird der Dachstuhl auf den Mauern der Notre-Dame wieder errichtet. 20 Zimmerleute von Perrault werden dafür vor Ort sein. Und kaum sind sie fertig, kommen die Dachdecker und verbergen ihr Werk unter ihren Ziegeln. Das ewige Schicksal der Zimmerleute.

www.rebatirnotredamedeparis.fr

Alexandra von Ascheraden

Veröffentlichung: 17. August 2023 / Ausgabe 33/2023

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