Spielerei mit Folgen


Für viele noch eine «Blackbox»: Anwendungen von virtueller Realität in der Praxis. Bild: Gerd Altmann (Pixabay)
Für viele noch eine «Blackbox»: Anwendungen von virtueller Realität in der Praxis. Bild: Gerd Altmann (Pixabay)
Digitale Hilfsmittel. Die virtuelle und die erweiterte Realität mit Brille und Tablet begegnen uns immer öfter. Was die Technologien bringen können und wo dabei die Grenzen des Sinnvollen liegen, ist aber längst nicht ausgemacht. Die Bau- und Immobilienbranche geht erste Schritte.
Jacqueline Huber übt das sichere Arbeiten an der Kreissäge. Das macht die Schreiner-Lernende zu Hause, ohne Maschine. Stattdessen hat sie eine Brille auf, die ihr das Tor zur virtuellen Welt öffnet. Späne fliegen dabei nur in digitaler Form. Was in diesem Fall frei erfunden ist, findet andernorts schon statt.
Beim Münchner Start-up Craftguide hat man genau das für die Schreinerausbildung gemacht und bietet seit gut einem Jahr virtuelle Inhalte für Lernende an. Im VR-Maschinenkurs wird beispielsweise ein Brett an der Formatkreissäge auf einen rechten Winkel gesägt. «Der Kurs wurde nach den Ausbildungsanforderungen der Schreinerinnung München, die eine bestimmte Abfolge von Arbeitsschritten und Sicherheitsvorkehrungen definieren, didaktisch aufgebaut», so das Unternehmen. Dabei wird der Nutzer über visuelle Blinkelemente durch die verschiedenen Arbeitsschritte geleitet. Da die Sicherheit ein essenzieller Bestandteil der Ausbildung und somit auch der virtuellen Kurse ist, werde über die Brille visuell vor möglichen Gefahren gewarnt.
Auch Daniel Gremli, Mitbegründer der Bandara VR GmbH in Zürich, hat keinen Grund, an solchen Geschichten zu zweifeln. Sein Unternehmen hat Anwendungen der virtuellen Realität, kurz VR für Virtual Reality, bereits für die Elektro-Branche erstellt. Ähnlich wie bei einem Simulator können so risikobehaftete Arbeiten virtuell und ohne Gefährdung geübt werden.
Allerdings ist der Nutzen umstritten. «Bei vielen Arbeitsabläufen müssen die Lernenden praktisch erfahren und auch fühlen können. Kantenbrechen lernt man nicht mit der Brille. Insofern sehe ich die Einsatzbereiche von virtueller Realität in der Grundausbildung von Schreinern eher als begrenzt an», sagt Daniel Zybach, Bereichsleiter Berufsbildung beim VSSM in Wallisellen ZH.
Anders sieht es beim Zusammenbau von komplexeren Bauteilen, Beschlägegruppen oder Reparaturen aus. «Wenn die Brille oder das Tablet dem Serviceschreiner hilft, eine Schliessanlage zu reparieren, dann eröffnen sich neue, effiziente Anwendungsbereiche für die Branche», sagt Zybach. Die neuen virtuellen Möglichkeiten liegen deshalb vor allem dort, wo ein zusätzlicher Nutzen generiert werden kann. «Wenn es um die Reparatur einer Maschine oder Anlage geht, kann die virtuelle Ebene auch viel Geld sparen. So könnte der Techniker in Japan sitzen und den Monteur vor Ort auf einer überlagerten, virtuellen Ebene durch die realen Gegebenheiten leiten», sagt Gremli.
Dabei ist die VR-Brille eigentlich ein relativ alter Hut. Erste Exemplare mit Verbindung zu Computern gab es bereits Ende der 1960er-Jahre. Was als Spielerei entstand, findet heute immer mehr nutzbringende Einsatzbereiche. «Nach dem anfänglichen Hype und der darauffolgenden Ernüchterung gelangen nun immer mehr sinnvolle Anwendungen mit VR- und AR-Technologie in unsere Wirklichkeit», zeigt sich Gremli überzeugt.
Während ein Benutzer bei der VR-Technik komplett in eine virtuelle Realität mittels Brille abtaucht, wird bei der erweiterten Realität, kurz AR für «Augmented Reality», eine virtuelle Ebene über das Abbild der Wirklichkeit gelegt. Daneben gibt es auch noch die «Mixed Reality» (MR). Bei dieser gemischten Realität wird ein Raum in 3D gescannt, wodurch dieser exakter erfasst wird, als wenn er nur über die Kamera eines mobilen Endgerätes mittels AR abgebildet und betrachtet wird. Generell sei aber diese Unterscheidung zwischen VR und AR eher hinfällig. Laut Experten würden die verschiedenen Bereiche in Anwendungen immer weiter miteinander verschmelzen.
«Entscheidend ist die Datendurchgängigkeit im gesamten Prozess. In der Baubranche bildet das ‹Building Information Modeling› (Bim) die Grundlage. Dadurch rückt das 3D-Modell ins Zentrum der Betrachtung. Dazu kommt nun die VR-Brille als nächster logischer Schritt, um den vielen am Bauprozess beteiligten Entscheidungsträgern, die aber zum Teil keine Fachleute sind, die Entscheidungsfindung zu erleichtern», sagt Christian Eichhorn, Leiter Bim & Digitalisierung bei der SSA Architekten AG in Basel. Auch die Fehlervermeidung ist ein wichtiger Punkt für Eichhorn. Als gelernter Schreiner weiss er darum, dass sich Kunden auch mit 3D-Ansichten die Dinge oft nicht wirklich vorstellen können. Es ginge deshalb nicht um ein nettes Werkzeug für die Bauherren, sondern um die Sicherheit bei den Entscheidungen, die getroffen werden müssten. SSA Architekten AG gilt als Pionier in diesem Bereich und wirkt an einem Digitalisierungsprojekt der Handelskammer beider Basel mit. Denn auch bei den Planungsbüros sind VR- und AR-Werkzeuge noch längst nicht verbreitet, obwohl die Technik inzwischen erschwinglich geworden ist. «Bislang betrifft es vor allem die Planung, in der wir die digitalen Ebenen einbinden», so Eichhorn. Mit Handwerkern würde das Ganze bislang noch nicht wirklich laufen.
Als Dienstleister für die virtuellen Werkzeuge macht Gremli derzeit eine Zielgruppe aus. «Es ist auch die Immobilienbranche, in der die Anwendungen stetig zunehmen. Und das ist auch nicht verwunderlich. Es ist einfach von Vorteil, wenn man durch ein noch nicht gebautes Haus gehen kann», sagt Gremli. So wird es möglich, auch Details innerhalb eines Gebäudes anzusehen, das bis anhin nur in der Planung existiert. Fehler und Unstimmigkeiten können in der Planungsphase erkannt und beseitigt werden. «Man kann einen Raum auch virtuell bevölkern, um zu sehen, wie es später sein wird. Selbst die Akustik lässt sich so abbilden, wenngleich das Augenmerk auf der visuellen Ebene liegt», weiss Gremli.
Um eigene AR- und VR-Anwendungen sinnvoll nutzen zu können, braucht es 2D- und 3D-Daten. Die hat der Schreiner, weshalb der Schritt in die erweiterte und virtuelle Realität für ihn einfacher ist als für manch anderes Handwerk.
«Wenn ein Schreiner 3D-Daten hat, fehlt ihm nicht mehr viel, um das Ganze in die VR-Anwendung zu bringen. Die Daten müssen aufbereitet und für die Nutzung in Virtual Reality bereinigt werden. Denn jede gezeichnete Schraube braucht Rechnerleistung – was in der Summe einen PC oder ein Smartphone überfordern kann. Meist muss auch die Beleuchtungssituation eines Raumes bearbeitet werden. Dann braucht es noch die Brille, und der Schreiner kann seine Kunden in die Küche schicken, die es noch gar nicht gibt», erklärt Gremli. Dass VR- und AR-Anwendungen Schreiner interessieren, überrascht den Experten deshalb nicht. Neben den komplett virtuellen Welten beim Blick in die Brille sind es vor allem die Anwendungen der erweiterten Realität, die für den Gestalter und Planer vielversprechend sind. «Mit AR kann der Schreiner den Tisch oder die Küche im Raum positionieren. Das ist einfach und hilfreich. Mit VR ist so was auch möglich, jedoch ist etwas mehr technisches Equipment notwendig», erklärt Eichhorn.
Das Einrichtungshaus Ikea ist schon auf den Zug aufgesprungen. Bandara hat eine VR-Anwendung für den Konzern erstellt, mithilfe derer im virtuellen Raum Farben und Lichtsituationen erkundet werden können. So soll der Kunde ein Gefühl bekommen, wie die Dinge zusammenwirken, und natürlich die richtigen Produkte finden. Eine Applikation für mobile Endgeräte, die mit AR-Technik arbeitet, kann sich jeder herunterladen. Mithilfe der Kamera des Tablets betrachtet der Kunde seinen Raum, rollt den Teppich aus und platziert Tisch, Stühle oder das Sofa virtuell im Abbild des eigenen Raumes.
Das könnten Schreiner ihren Kunden auch bieten. Allerdings müssen für den virtuellen Ausflug Hunderte von ganz realen Arbeitsstunden geleistet und bezahlt werden. Ist das Erstellen von AR-Anwendungen wie im Beispiel von Ikea noch relativ einfach, brauchen virtuelle Räume doch einige Zeit. Jedoch: «Wie immer beim Einsatz neuer Technologien verschiebt sich der Zeitbedarf für die einzelnen Prozesse. Zunächst muss man Zeit investieren, um später im weiteren Verlauf Zeit einsparen zu können», erklärt Eichhorn. Am Beispiel der CNC-Technologie liesse sich das heute gut nachvollziehen. Wenn eine AR-Anwendung dem Kunden die Entscheidung erleichtert, ob seine neue Küche 20 000 oder 50 000 Franken kosten darf, lässt sich der potenzielle Nutzen erahnen.
Als Architekt sieht Eichhorn den Mehrwert der digitalen Werkzeuge klar vor sich. «In Zukunft werden wir im Baubereich sicher ein System haben, auf das alle Beteiligten im Planungsprozess zurückgreifen können», so Eichhorn. Damit werde des Schreiners Massaufnahme vor Ort auf der Baustelle aber nicht ersetzt. Vielmehr sei der Umgang mit Toleranzen ein entscheidender Punkt digitaler Planungswerkzeuge.
In Kalifornien entwickelt das Unternehmen Mojo Visions unterdessen Kontaktlinsen, die eine AR-Ebene implementiert haben. Dem Linsenträger werden so Augmented-Reality-Inhalte direkt auf der Hornhaut angezeigt. Hauptkomponente ist ein hoch aufgelöstes Display, das im Vergleich zu einem modernen Mobile 40-mal besser aufgelöst ist. Noch ist das Zukunftsmusik, auch weil derzeit das Ganze noch mit einer externen Batterie und einer Recheneinheit verkabelt ist, die um den Hals getragen wird. Die Linsen sollen aber in den nächsten zwei Jahren auf den Markt kommen. Das findet selbst Gremli etwas unheimlich.
Veröffentlichung: 20. August 2020 / Ausgabe 34/2020
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