Vergammelter Postwagen erhält ein zweites Leben

Alter Grundschweller in der Hand, neuer am Waggon. Das Wagner-Team: Florian Leutwiler (unten, von links), Norbert Karrer, Thomas Koch und André Schoenenberger sowie Lucien Müller und Niklas Käslin (oben). Bild: Beatrix Bächtold

Während ihrer Projektwoche tragen Lucien Müller und Niklas Käslin, zwei angehende Schreiner EFZ Fachrichtung Wagner, Leuchtwesten. Sie müssen über Gleise gehen, bis sie zu ihrem Arbeitsort, einem Zugwaggon, gelangen.

Sein Zustand ist erbärmlich. Der Lack ist ab. Aus der doppelwandigen Verkleidung quillt die zur Isolation dienende Holzwolle. Dort, wo einmal die Tür war, ist nur noch ein Loch. Und was ganz schlimm ist: Die Grundschweller, als tragendes Rückgrat des Waggons, sind morsch und zerbröseln bei der geringsten Berührung. Dabei war der Postwagen Z3i 427 einmal ein Prunkstück, 1908 von der Schweizerischen Industrie-Gesellschaft (SIG) in Neuhausen gebaut. Von den ursprünglich gebauten 20 Stück existieren heute nur noch 2. Einer davon steht in Rapperswil SG auf dem Abstellgleis zur Reparatur, sein Bruder dient als Ersatzteillager.

Früher war der Waggon ein Postbüro auf Schienen. Während der Fahrt zum nächsten Bahnhof wurde in ihm die Brief- und Paketpost sortiert. Aber weil die Zeit der Postzüge vorüber ist, gammelte er jahrelang vor sich hin. André Schoenenberger spürte ihn auf und erwarb ihn für wenige Tausend Franken. Der Mittfünfziger ist Technischer Leiter bei der IG Railvetica. Diese private GmbH wurde 1998 eigens dazu gegründet, der Lokomotive Krokodil Be 6/8 III passende Wagen zur Verfügung zu stellen. Mit dieser besonderen Zugkomposition sollen später Publikumsfahrten durchgeführt werden. Das wird bei maximaler Eigenleistung eine halbe Million Franken und viel Wissen von Fachleuten kosten. Deshalb sind die zwei angehenden Schreiner EFZ Fachrichtung Wagner Niklas Käslin und Lucien Müller in Leuchtwesten auf dem Gleis unterwegs. Sie werken während ihrer Projektwoche an acht Arbeitstagen im Lokschuppen in Rapperswil.

Auf der einen Seite muss der gesamte Grundschweller ersetzt werden, auf der anderen genügt ein Teilersatz und eine Instandsetzung der 136 Millimeter breiten und 107 Millimeter dicken Eichenbalken. Diese wurden in der Werkstatt des Wagners und Ausbildners Thomas Koch gehobelt und gefälzt. Das tönt einfach, ist es aber nicht. Ohne Computer und nur mit Standardwerkzeug braucht es viel Geschick, bis sich neues und altes Holz auf traditionelle Art formschüssig verbindet.

Schnelle Berufswahl bei Müller

Für Lucien Müller aus Glattfelden ZH ist sein Mitwirken am Projekt ein Traum. Letzten August fing seine Lehrzeit bei Thomas Koch an. Zwei Wochen später steht der 16-Jährige bereits mit Stechbeitel in der Hand auf der Leiter im Lokschuppen. «Ich habe nur sieben Tage geschnuppert und wusste, dass Wagner mein Beruf ist», erzählt er. «Wir benutzten zum Beispiel handgeschmiedete antike Nägel. Die wirft man nicht weg. Die kann man zurechtmachen und wiederverwenden. Das sind so kleine Details, die ich an diesem Beruf liebe.» Und als ihm sein Ausbildner bereits in der ersten Lehrwoche mitteilte, er dürfe bei der Restaurierung eines alten Bahnwagens mitmachen, sei er fast ausgeflippt. «Die Arbeit ist megainteressant. Das ist etwas Richtiges, etwas Wertvolles, was wir hier machen. Ich wusste von Anfang an, dass das mein Beruf ist. Aber das, was ich bis jetzt hier in dieser Projektwoche erlebe, bestätigt mich in meiner Berufswahl», schwärmt er, die Hände schwarz von der Gerbsäure der Eichenbalken. Nach Feierabend werde er im Zürichsee baden gehen, dann werde das wieder abgewaschen, sagt er und lacht.

Zweiter im Bunde ist Niklas Käslin. Der 17-Jährige aus Beckenried NW ist gerade im zweiten Lehrjahr bei der Ambauen Treppen AG. «Dass mein Lehrbetrieb mich für dieses Projekt freigab, finde ich grosszügig und cool. Hier habe ich die Chance, etwas zu lernen», sagt er. «Speziell faszinieren mich die verschiedenen, zum Teil schon fast vergessenen Verbindungen, die ich hier in der Praxis umsetzen kann. Auch solche, die man sonst nie braucht. Wie zum Beispiel die schräge Keilschiftung.» Zum Team gehört auch Florian Leutwiler aus Thayngen SH. Der 21-Jährige hat vor zwei Jahren bei Thomas Koch die Lehre abgeschlossen und ist nun bei ihm angestellt. Leutwiler ist beinahe ein Schienenfahrzeugsrestaurationsprofi. Kürzlich war er bei der Restauration eines alten Tramwagens dabei. «Unser altes Handwerk und solche historischen Fahrzeuge passen perfekt zusammen», sagt er. Ebenfalls im hölzigen Operationsteam ist Norbert Karrer. Eigentlich ist der 61-Jährige aus Ennetbürgen NW Avioniker bei der Pilatus Flugzeugwerke AG. Als zweiten Beruf schloss er vor zwei Jahren die Lehre zum Schreiner EFZ Fachrichtung Wagner ab. «Für dieses Projekt habe ich Ferien genommen. Wo könnte ich mich besser erholen als an Oberfräse, Hobelmaschine, Winkelschleifer und Co.?», sagt Karrer und lacht.

Hölziges Fachwissen ist Gold wert

Inzwischen haben die Holzfachleute ihre Arbeit am Postwagen abgeschlossen. «Natürlich packen wir von der IG auch selber an, und Spenden gibt es auch ab und zu. Aber altes hölziges Fachwissen, wie es diese Wagner beisteuern, ist unbezahlbar und Gold wert», sagt André Schoenenberger von der IG Railvetica zufrieden.

«Ich bin dankbar, dass ich diese Erfahrung gleich am Anfang meiner Lehrzeit machen durfte. Alles war neu und spannend», resümiert Lucien Müller. «Als ich meinen Kollegen in der Berufsschule von diesem Einsatz erzählte, staunten sie und fanden es cool. So etwas hat noch keiner gemacht und wird es wohl auch nicht.» Während der Lernende zuvor keine grosse Begeisterung für Eisenbahnen hegte, sieht er die grossen Schienenfahrzeuge heute mit anderen Augen. Als das Werk vollendet war, lud man das Team zu einer Fahrt mit den historischen Eisenbahnwagen und der Krokodil- Lokomotive ein. «Das hat mich sehr gefreut und bedeutete mir als Zeichen der Wertschätzung unserer Arbeit viel.» Trotzdem hatte er absagen müssen, weil ausgerechnet an dem Tag sein Bruder den 18. Geburtstag feierte. «Vielleicht gibt es ja, wenn der Küchenwagen fertig ist, für mich eine Gelegenheit, ein Eisenbahnfährtli mit ‹meinem› alten Postwagen zu machen», sagt er trotzdem zufrieden.

Und nur so am Rande: In der ganzen Schweiz hat es im Moment keine Lernenden zum Schreiner EFZ Fachrichtung Wagner im dritten und vierten Lehrjahr, dafür drei im ersten und einen im zweiten.

www.ambauen.chwww.holzkoch.chwww.wagner-skibauer.ch

Beatrix Bächtold

Veröffentlichung: 05. Oktober 2023 / Ausgabe 40/2023

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