Das Leben als Erlebnis

Springt der Religions- und Erlebnispädagoge Reto Weiss (49) als Werklehrer ein, bauter beispielsweise Wildbienenhotels. Bild: Caroline Schneider

«Ich möchte Kinder und Jugendliche dabei unterstützen, Vertrauen in sich und ins Leben zu gewinnen», sagt der Erlebnispädagoge Reto Weiss. Der gelernte Schreiner arbeitet beim Sonnenberg in Baar ZG, einem heilpädagogischen Schul- und Beratungszentrum für seh- und mehrfachbehinderte sowie verhaltensauffällige Kinder und junge Erwachsene. «In den letzten Jahren haben die psychischen Probleme bei unserer Klientel zugenommen», beobachtet der 49-Jährige. «Das widerspiegelt für mich den Zeitgeist unserer Gesellschaft. Auf der einen Seite hat der Einfluss der Digitalisierung zugenommen – die sozialen Medien führen zur Entfremdung von sich selbst. Auf der anderen Seite ist der Leistungsdruck gestiegen.» Dies hinterlasse Unsicherheit und Ängste. Als Ergänzung zu den weiteren Schul- und Therapieangeboten bietet die Erlebnispädagogik Entwicklungsmöglichkeiten und neue Perspektiven. Es gehe um das Zusammenspiel von Kopf, Herz und Hand, um ein unmittelbares Erleben und Handeln. «Mit Erlebnispädagogik versuchen wir, Kompetenzen ausserhalb des Schulzimmers zu fördern.» Weiss geht mit den Jugendlichen regelmässig raus in die Natur, verbringt den Tag auf einer Schneeschuhtour oder im Wald. Das klingt einfacher, als es ist. Nicht alle seien sich dies gewohnt. «Sie fühlen sich unsicher, ekeln sich vor Insekten, Würmern oder Käfern oder möchten nicht, dass ihre Kleider schmutzig werden oder nach Rauch riechen. Einige kommen im Winter mit weissen Turnschuhen und knöchelfreien Socken in den Wald.» Es gehe darum, dass sich die Jugendlichen aus der Komfortzone hinausbewegen, den gewohnten Kontext verlassen, Neues erleben und sich selbst in der Gruppe neu erfahren.

Weiss hat verschiedene Outdoor-Module mitsamt Aufgaben im Köcher, die er je nach Situation zückt. «Beim Feuermachen üben wir verschiedene Feuertechniken unterschiedlichen Schweregrades.» Das draussen Kochen ist zentral. «Manchmal backen wir Brot im Kochkessel, bauen einen Pizzaofen, brutzeln Spiegeleier in Alufolie oder kochen Klassiker wie Älplermagronen oder Risotto. Ein anderes Mal lernen die Kinder, einen Seilzug über den Fluss zu spannen, auf dem sie Lebensmittel hin- und hertransportieren können. «Oder wir erfinden Spiele, bestehend aus Naturmaterialien. Hier geht es darum, die eigene Kreativität zu aktivieren.» Die Wirkung solcher Waldtage auf die Jugendlichen sei unterschiedlich. Manche blühten auf oder seien stolz, wenn sie eine Aufgabe erfolgreich gelöst haben, auf manche hätten diese Tage eine beruhigende Wirkung und machten sie zugänglicher und ausgeglichener. Weiss hat zweierlei Hüte auf: denjenigen des Erlebnis-, aber auch denjenigen des Religionspädagogen. Spielerisch und lebensnah bringt er den Kindern und Jugendlichen die fünf Weltreligionen näher und besucht mit ihnen verschiedene religiöse Einrichtungen. Weil der 49-Jährige einen Schreinerhintergrund hat, springt er ab und zu beim Werkunterricht ein und baut mit den Jugendlichen zum Beispiel Kaugummiautomaten oder Wildbienenhotels.

Es ist diese Vielseitigkeit, die ihm an seinem Job gefällt. Er betont: «Die Ausbildung zum Schreiner war die beste Wahl, die ich als Einstieg in die Berufswelt treffen konnte.» Zum Schluss zitiert er ein Gedicht einer Mapuche-Indianerin. «Die Wurzeln des Baumes sind unsere Füsse. Unser Herz trägt die Flügel des Zugvogels.» Diese beiden Eckpfeiler möchte Weiss seinen Schülern weitergeben: die Wurzeln für die Erdung im Leben und die Freiheit im Herzen.

«Ich möchte Kinder und Jugendliche unterstützen, Vertrauen in sich und ins Leben zu gewinnen.»

Caroline Schneider

Veröffentlichung: 24. Februar 2022 / Ausgabe 8/2022

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