Acryl in den Adern


Andy Nussbaum setzt mit seiner Schreinerei auf die Verarbeitung von Acrylstein. Er legt sich dabei nicht auf ein Produkt fest. Bild: Martin Freuler


Andy Nussbaum setzt mit seiner Schreinerei auf die Verarbeitung von Acrylstein. Er legt sich dabei nicht auf ein Produkt fest. Bild: Martin Freuler
Mineralwerkstoffe. In einer kleinen, unscheinbaren Werkstatt im zürcherischen Mönchaltorf hat sich Schreiner Andy Nussbaum auf die Verarbeitung von Acrylstein spezialisiert. Dank seines Ehrgeizes und Tüftlergeists holt er aus dem Material mehr heraus, als man für möglich hält.
Ein bisschen vernarrt ist er schon in das Material, das gibt Andy Nussbaum offen zu. «Ja, ich habe richtig viel Freude daran», sagt er. Der 38-jährige Zürcher Oberländer ist Schreiner mit Herz und Seele. Und klar, er arbeitet gerne mit Holz, alles andere wäre ja auch eher seltsam. Doch noch viel lieber arbeitet er eben mit Acrylstein. «Schauen Sie her!», sagt er und zeigt auf den Aufdruck auf seinem Budenhemd. «Auf unserer Bekleidung steht zwar schon, dass wir eine Schreinerei sind. Aber hinten auf dem Rücken, wo man hinschaut, wenn wir an der Arbeit sind, dort steht ‹Die Acrylstein-Profis›.» Das ist die Bezeichnung, die für Schreiner Nussbaum wirklich stimmt.
Mit der Ausrichtung seines Zwei-Mann-Betriebs, den er 2018 gegründet hat, besetzt Nussbaum eine Nische. Und dazu passt auch seine kleine Werkstatt, die er mit einem anderen selbstständigen Schreiner teilt. Sie sind zu dritt auf engem Raum. Im Sommer 2022 kommt noch eine Lernende hinzu. Nussbaum ist eingemietet in einem Schopf im Dorfkern von Mönchaltorf ZH. Unten wird gearbeitet, im Obergeschoss befinden sich das Plattenlager und die Striebig. Mit einem Kran wird das Material nach oben gehievt. Das Büro hat er zu Hause.
Nussbaum hat Ausbaupläne für die Zeit in ein paar Jahren, wenn der Werkstattkompagnon in Pension geht. Eine CNC-Maschine und die Einrichtung zum thermischen Verformen von Acrylstein will er dann anschaffen. Heute vergibt er diese Arbeiten an externe Partner. Zudem soll ein kleiner Raum für Kundengespräche eingebaut werden. Doch gross werden wolle er nicht, sagt Nussbaum. Der Schopf hier sei genau das Richtige für ihn. Diese Bescheidenheit ist kein Ausdruck von mangelndem Selbstbewusstsein. Nussbaum hat durchaus hohe Ziele. «Ich möchte persönlich bleiben, aber so spezialisiert sein, dass die Grossen zu mir kommen und mich um Rat fragen.» Das kommt manchmal jetzt schon vor, Nussbaum hat sich einen Namen geschaffen unter den Schweizer Acrylstein-Verarbeitern. Ein Beispiel: Vor einiger Zeit fragte ihn ein führendes Unternehmen an, ob er nach Genf fahren könne, um zwei Teile zu verkleben. Nussbaum reiste quer durchs Land, fügte die Teile zusammen und fuhr wieder zurück. «Das macht mir nichts aus, ich kann ja den Weg verrechnen.»
Der grosse Aktionsradius verrät, dass das Know-how der jungen Schreinerei weit herum gefragt ist. Für die grossen Projekte nimmt Nussbaum ohnehin gerne einen langen Weg auf sich. Etwa für die Realisierung eines Badezimmers im altehrwürdigen Schloss Rietberg im Domleschg im Kanton Graubünden. Der Bauherr wollte im Gebäude-Ensemble, das bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht, ein Bed and Breakfast einrichten. Dabei musste er sich an strenge Vorgaben der Denkmalpflege halten. Die Lösung: Nussbaum stellte eine freistehende Box aus Acrylstein in den Raum. Sie enthält Dusche, WC, Sauna und eine Ecke für Waschmaschine und Tumbler. Das Bodenelement fügte er aus sechs Teilen zusammen, die er in der Werkstatt vorgefertigt hatte. Darauf baute er die Wände des Badezimmers auf. Alle Teile wurden verklebt und dann verschliffen. «Wer eine Naht sucht, wird scheitern. Die Verbindungen sind absolut unsichtbar», sagt Nussbaum. Er verwendete Hi-Macs mit einer Stärke von 12 mm. Allein die Acrylstein-Arbeiten hatten einen Preis von 35 000 Franken.
Vor dem Start der Arbeiten musste der Bauherr ein Fundament betonieren lassen. Wegen der geringen Toleranzen von zwei Zehntelmillimetern bei der Verklebung von Acrylstein musste man unbedingt verhindern, dass bei der Montage darunterliegende Holzbalken federn können.
Absolut rein, exakt und schnell zu arbeiten, das ist die Herausforderung beim Schreinern mit Acrylstein. «Ich habe immer wieder Adrenalinstösse, wenn ich Teile zusammenfüge», sagt Nussbaum. Der Acrylstein-Kleber aus zwei Komponenten hat eine offene Zeit von nur gerade drei Minuten. «Ich spiele zuerst jeden Handgriff durch, setze die Teile zusammen und verspanne sie. So bin ich sicher, dass alles Werkzeug, das ich für die Verklebung brauche, am richtigen Ort ist.» Danach zerlegt Nussbaum das Werkstück, gibt den Kleber an und fügt die Teile erneut zusammen. «Stellen Sie sich vor, ich müsste in den drei Minuten, die mir zur Verfügung stehen, noch eine Schraubzwinge suchen gehen.»
Nussbaum redet mit ansteckender Begeisterung über seine Arbeit, seine Aufträge und natürlich auch seine Kniffs und Tricks, die er im Laufe der Jahre im Umgang mit Acrylstein herausgefunden hat (siehe Seite 16). Nussbaum denkt sich in das Material hinein und tüftelt damit. Dabei hält er sich nicht immer an die Gebrauchsanweisungen der Hersteller. Sagt ein Anbieter, dass seine Platten nur mit seinem Kleber verbunden werden können, rümpft Nussbaum die Nase. Er weiss selber, welche Materialien sich kombinieren lassen. Und die dürfen durchaus auch von verschiedenen Anbietern sein. «Ich probiere es aus und stelle dann schnell fest, was funktioniert und was nicht.» Der Geschmack der Kundin oder des Kunden müsse doch entscheidend sein, wie das Möbel oder die Küche am Schluss aussehe, und nicht die Produktepalette eines bestimmten Herstellers.
Den bislang grössten Auftrag fischte sich Nussbaum zusammen mit einer Schweizer Acrylstein-Handelsfirma. Im Neubau am Hauptsitz der Zürich Versicherung am Zürcher Mythenquai konnte der Schreiner für das Mitarbeiterrestaurant und die sanitären Anlagen rund 1700 m2 Acrylstein verbauen. Das Material, in diesem Fall Corian, kam als Wandverkleidung zum Einsatz. Auch hier fügte Nussbaum die Teile auf der Baustelle zusammen. «Immer wieder kamen Projektleiter des Generalunternehmers vorbei um zu raten, wo die Naht verläuft. Sie hatten keine Chance», sagt Nussbaum. Es amüsiert ihn, dies zu erzählen.
Um voll ausgelastet zu sein, nimmt Nussbaum auch «normale» Schreineraufträge an: Massivholztische, Treppen, demnächst sogar eine Gartenterrasse aus einem Holzverbundwerkstoff. Aktuell steht eine Medienwand in der Werkstatt. Der Auftraggeber möchte den Fernseher in die Wand integrieren und alle dazugehörigen Geräte und Kabel verschwinden lassen. Nussbaum macht dafür einen kleinen Vorbau, der eine Nische im Raum verschliesst und danach wie die Wand verputzt und gestrichen wird. «Es wird so aussehen, als sei es nie anders gewesen.» Natürlich ist auch bei solchen Aufträgen Acrylstein ein Thema. In diesem Fall hat Nussbaum das Möbel, das unter dem Fernseher in die Wand eingelassen wird, aus Mineralwerkstoff gebaut.
Ein neues Liebhaberprojekt soll ebenfalls eine Brücke schlagen zwischen dem Schreiner und dem Acrylstein-Profi: Nussbaum entwirft und fertigt Wohnaccessoires wie Weinständer, Tabletts und Ähnliches. Es versteht sich von selbst, dass immer Acrylstein-Elemente und Holz im Spiel sind. Das Holz ist vom Nussbaum.
Acrylstein-Produkte bilden eine Untergruppe in der Familie der Mineralwerkstoffe. Gemeinsam ist ihnen das Bindemittel Acryl (30 bis 40 %). Hauptbestandteil ist der Mineralstoff Aluminiumhydroxid mit 60 bis 70 %. Hinzu kommen in geringen Mengen Pigmente. Bekannte Vertreter der Acrylsteine sind Corian, Hi-Macs, Staron, Avanite, Arlian oder Meganite. Das Material ist mehrheitlich säurefest und hitzebeständig, einzelne Produkte bis zu 250 Grad. Zudem ist Acrylstein porenfrei. Weist etwa ein Spülbecken einen Fleck auf, so haftet dieser am Kalk, nicht am Material. Der Fleck lässt sich mit Kalklöser einfach entfernen.
Der Zweikomponentenkleber greift durch eine chemische Reaktion das Acryl an und sorgt dafür, das sich die Teile selber verbinden. Es entsteht eine absolut dichte Naht. Wichtig: Die Teile müssen auf zwei Zehntelmillimeter genau gefräst sein. «Ein Sägeschnitt ist zu wenig präzis», sagt Acrylstein-Spezialist Andy Nussbaum. Vor dem Kleben müssen die Leimstellen von Handfett und Staub befreit werden. Nussbaum verwendet dafür Aceton. Hat es beim Kleben Rückstände von Fett auf der Leimstelle, entstehen unschöne, schwarze Flecken. Die offene Zeit des Klebers beträgt lediglich drei Minuten. Solange hat der Verarbeiter Zeit, die Teile zusammenzufügen, zu richten und zu verspannen. Nach dem Verkleben wird die Leimspur mit einem Stechbeitel oder einer Fräse abgetragen, die Stelle wird verschliffen und bis auf den gewünschten Glanzgrad aufpoliert.
Nussbaum empfiehlt bei Werkstücken, die stark belastbar sein müssen, Rundungen mit einem Radius von weniger als 50 mm zu fräsen, nicht zu biegen. Das Ergebnis ist eine Hohlkehle. Diese wird mit der CNC ausgeführt, was Auswirkungen auf die Planung hat. Teile, die eine Hohlkehle enthalten, müssen vorgefertigt werden. Die Skizze oben zeigt das Vorgehen beim Bed and Breakfast im Domleschg (siehe Haupttext). Die Teile 1 (Boden) bis 3 (Wand) werden in der Werkstatt verklebt, danach wird in Teil 2 die Rundung gefräst. Dieser ist – wie auch Teil 1 – vorgängig gefälzt worden, damit für die Verklebung ein Anschlag entstanden ist. Das fertige Element mit Boden und dem untersten Teil der Wand wird auf die Baustelle gebracht, wo der übrige Aufbau (Teil 4) erfolgen kann.
Acrylstein ist laut Nussbaum widerstandsfähiger als Naturstein. Entsteht trotzdem ein Hick, lässt sich dieser gut reparieren, sofern noch Plattenmaterial aus der gleichen Serie vorhanden ist. Nussbaum fräst bei jedem Projekt aus Reststücken kleine Zapfen und legt sie zur Lagerung zum Beispiel beim Kunden in den Hohlraum hinter der Rückwand des Küchenmöbels. Die Reparatur erfolgt wie beim Zahnarzt: Der Hick wird ausgebohrt, der Zapfen eingeklebt, dann wird die Fläche geschliffen und poliert. Auch hier gilt die maximale Toleranz von 2 Zehntelmillimetern.
Veröffentlichung: 07. Oktober 2021 / Ausgabe 41/2021
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