Auf ihnen ist fast alles erlaubt

Das Piratenschiff erleidet, trotz heftiger Stürme, keinen Schiffbruch. Bild: Chantal Bavaud

Spielmöbel.  Sie laden zum Turnen, Rutschen, Verstecken oder Entspannen ein und sind von speziell robuster Bauart. Der Fantasie setzt Spielmöbeln keine Grenze, einzig der Einsatzort bringt Einschränkungen mit sich, wie diese schön verspielten Beispiele zeigen.

Die kleinen Hände ergreifen flink das Tablar, und schon erklimmt der Dreikäsehoch die faszinierenden Höhen des Bücherregals. Die Mutter, nur eine Sekunde abgelenkt, stürzt erschrocken herbei und pflückt den Junior aus der Belletristik-Abteilung der heimischen Bibliothek. Wer kennt das darauffolgende Donnerwetter nicht: «Gaht's eigentlich no! Die Regalböden halten doch nicht. Das hätte zu einem schlimmen Unfall führen können!» Grummelnd, aber wenig eingeschüchtert, zieht der Knirps von dannen, um sich einem neuen Abenteuer zu stellen, welches die liebe Frau Mama vielleicht nicht ganz so schnell zu unterbinden weiss.

Grenzenloses Spiel

Im letzten Jahr, in welchem alle coronabeding zu Hause ausharren mussten, Spielplätze geschlossen und Freizeitaktivitäten über weite Strecken abgesagt wurden, kam es in den vier Wänden vieler Familien zu so mancher Eruption zwischen Eltern und Kind. Wie entspannend für die strapazierten Nerven ist es da, wenn ein Möbel im Haushalt steht, welches so ziemlich alle Kapriolen aushält und dem kindlichen Spiel fast keine Grenzen setzt.

«Nanuu» – Was ist denn das?

Das «Nanuu» von Chantal Bavaud ist ein wahres Chamäleon. Der Grundbaustein bildet eine halbrunde Holzschale. Das Formholzteil aus Pappel ist innen wie aussen mit Buchenholz furniert. Dazu gesellen sich zwei Holzbretter und zwei Sicherheitsbolzen aus Buchensperrholz sowie ein Filzelement. Die Bretter können durch Schlitze in der Holzschale in verschiedenen Positionen angebracht werden. Durch das Umstecken und das Anbringen des Filzes kann das Kind im Spiel neue Welten schaffen. Ist der Bautrieb einmal geweckt, entsteht aus «Nanuu» im Handumdrehen ein Schiff, eine Höhle, ein Berg, eine Garage, eine Kutsche, eine Küche, ein Verkaufsladen, ein Haus oder auch mal ein Ufo.

Kinder sind sehr ehrlich

Die aus Aarau stammende Bavaud entwickelte das Spielmöbel im Zuge ihrer Bachelorausbildung zur Industriedesignerin. Sie wollte ein nachhaltiges Spielzeug schaffen, welches nicht aus Plastik ist, aber wie Legos die Kreativität anregt. Mit den Prototypen verbrachte sie viel Zeit in einem benachbarten Kindergarten: «So bekam ich ganz direkt sehr wertvolle Inputs. Das Schöne daran war, dass die Kinder sehr ehrlich sind», erinnert sie sich zurück. Produzieren liess sie die kleine Serie in Deutschland. «Ich habe lange nach einer passenden Schreinerei in der Schweiz gesucht, die meine Kriterien an das Holz und die Produktion erfüllt. Leider wurde ich nicht fündig», sagt Bavaud, die heute als selbstständige Produktdesignerin arbeitet. Sie habe viele Betriebe angeschaut und Offerten eingeholt. Letztendlich fiel ihr Entscheid, in Deutschland zu produzieren, auch wegen der Holzherkunft. Das Holz stammt in diesem Fall aus dem eigenen Wald der Schreinerei.

Zu hoch für kleine Wundernasen

Ebenfalls tatkräftige Unterstützung eines Kindes hatte Christian Minneker. Er ent- wickelte einen Lernturm in Form eines Baggers. Auslöser für dieses Projekt war sein mittlerweile fünfjähriger Sohn. Dieser hing und zerrte ständig am Hosenbein des selbstständigen Produktedesigners, weil er auch sehen wollte, was der Vater gerade machte. Doch Küchentresen, Werkbank und Esstisch waren schlicht zu hoch gelegen für die kleine Wundernase. Eine Lösung musste her. Lerntürme gibt es auch im Möbelfachhandel zu kaufen, aber diese überzeugten den Vater nicht. Er stellte sich die Frage: «Wie soll ein Kindermöbel gestaltet sein, das nur selten im Kinderzimmer steht und das sicher und gleichzeitig ansprechend für das Kind sein muss?» So entstand der stabile Bagger aus massiver, geölter Eiche. Er eignet sich für Kinder, die selbstständig und sicher stehen können und kleiner als 125 Zentimeter sind. Die obere der beiden Standflächen sowie die Sicherungsstange in der Schaufel können entfernt werden. Die Türrahmen dienen sowohl zum Festhalten beim selbstständigen Hoch- und Runtersteigen wie auch als seitliche Absturzsicherung.

Minneker lässt die Einzelteile in kleinen Serien von der VEBO-Werkstätte in Oensingen SO, einer Institution zur beruflichen und sozialen Eingliederung von Menschen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung, fertigen. Zusammengebaut werden die Teile dann von ihm selbst.

Ab in die Ecke

Nicht nur im Kinderzimmer will der Nachwuchs unterhalten sein, auch in halböffentlichen Bereichen gibt es für Kinder oft langweilige Wartezeiten zu überbrücken. Hier haben Schreinerin und Schreiner die Möglichkeit, sich mit liebevoll gestalteten Wartebereichen, durchdachten Spielecken und fantasievollen Holzkreaturen zu profilieren. Doch das Thema Kinderecke werde kontrovers diskutiert, sagt Christian Gehri, Geschäftsleitungsmitglied der Gehri AG. Das Unternehmen aus dem bernischen Aarberg durfte bereits für verschiedene Kunden Kinderecken schaffen. «Einige sind der Meinung, dass man die Kinder früh an eine Marke binden könne, wenn man ihnen positive Erinnerungen mit auf den Weg gibt», sagt Gehri. «Ich selbst erinnere mich noch bestens an das Kindertischchen mit dem roten Holztelefon, welches im Wartezimmer meines Kinderarztes stand.» Andererseits gäbe es eben auch Eltern, die ihre Kinder zum Beispiel im Wartebereich einer Bank abladen würden, um ungestört ihre Kommissionen zu erledigen. Die tobende und kreischende Meute vor dem Bankschalter werde natürlich nicht von allen gleich gerne gesehen.

Ort der Begegnung

Für die Luzerner Kantonalbank gestaltete Gehri mit seinem Designteam die sogenannten «Lukis». Die etwa kniehohen Löwen aus Holz mit Ledermähne sind Teil eines Raum- und Möblierungskonzepts für die Filialen. Dabei solle die Kundenhalle nicht mehr von den Schaltern geprägt sein, sondern zu einem Ort der Begegnung werden. Auch für die Walliser Kantonalbank haben sie gearbeitet. Auf den Kanton abgestimmt haben sie eine Spielkuh hergestellt. «Die Königin des Wallis» trägt ein Tablet, für welches die Gehri AG eigens drei Spiele entwickelte, gestaltete und durch einen externen Partner programmieren liess. «Die Kinderterminals müssen Kinder im Alter von zwei bis zwölf Jahre begeistern können. Je ansprechender sie gestaltet sind, desto grösser die Zielgruppe. Wir haben auch schon Erwachsene beobachtet, die sich mit dem Memory oder der Zeichnungsober- fläche unserer Terminals die Zeit vertrieben», erzählt Gehri.

Von Tanten und mächtigen Drachen

Der Massivholz-Möbelbauer Christoph Lerch bekam die Aufgabe, Grosses zu schaffen. Er konnte für verschiedene Filialen der Stadtbibliothek Basel Spiel-Maskottchen herstellen. Angefangen habe diese fantastische Zusammenarbeit mit einer Idee des Direktors der GGG Stadtbibliothek Basel, erzählt der Schreiner aus Bischofszell TG. Er wollte für die Kinderabteilung der neu umgebauten Bibliothek Schmiedenhof Holzmodelle des alten Basler Trams «Dante Schuggi» und des angehängten, offenen Wagens, der liebevoll «Badwännli» genannt wird. Lerch studierte für diesen Auftrag erst die Originale im Trammuseum und fertigte anhand der Fotografien, die er gemacht hatte, die Modelle. Im Innern der «Dante Schuggi» gibt es viel Platz für die Kinder, um in Ruhe zu lesen. Im «Badwännli» brachte er Fächer an, in welche die Kinderbücher gestellt werden und zum Schneuggen einladen. Neben der Gestaltung musste Lerch besonders auf die Bauart der Gebilde aus Holz achten: «Kinder sind verspielt und wollen alles entdecken. Dabei machen sie auch nicht vor dem Dach halt. Ich habe darum auch die Stromabnehmer aus massivem Metall zusammengeschweisst.» Das habe sich im Nachhinein als ein sehr weiser Entscheid entpuppt, erzählt er.

Die Holztrams kamen so gut an, dass Lerch noch weitere Filialen mit eigenen Maskottchen ausstatten durfte. Es kamen eine Dampflokomotive, eine Seifenkiste und letzten Frühling sogar ein fast sieben Meter langer und zweieinhalb Meter hoher Drache hinzu. Und die Stadt Basel plant noch weitere Filialen umzubauen. Ob er für diese ebenfalls Spielmöbel erschaffen dürfe, kann Christoph Lerch noch nicht sagen: «Es sind Ideen da, aber wegen der Coronapandemie wurde vorerst alles auf Eis gelegt.»

Verspielte Zimmer gegen die Angst

Spielmöbel können aber noch viel mehr: Sie schaffen es, den Kindern die Angst zu nehmen. Romeo Andrea Corbanese ist Mitinhaber der Firma Meier-Zosso Planungs AG, die sich auf Planung, Bau und Umbau von Praxen aller medizinischer Fachrichtungen spezialisiert hat. Der gelernte Architekt hat schon so manche Kinderarztpraxis eingerichtet und weiss, worauf es ankommt: «Bei den Kindermöbeln muss man speziell auf die Sicherheitsvorschriften der Suva und SIA achten. Diese sind zwar grundsätzlich für Erwachsene ausgelegt, man passt einfach die Brüstungshöhe des Spielhauses mit gesundem Menschenverstand auf die Kindergrösse an.» Die Möbel dürfen keine scharfen Kanten haben, und alle Teile müssen niet- und nagelfest montiert sein. Dies nicht nur, weil sich ein Kind verletzen oder etwas verschlucken könnte, sondern auch, weil Sachen sonst aus den Praxen gestohlen würden. «Ich habe erlebt, dass bei einem Spielhaus die Vorhänge weggekommen sind», nennt Corbanese ein Beispiel. Der Fantasie für den Wartebereich seien sonst keine Grenzen gesetzt. Einzig die Raumhöhe schränke schnell ein. «Beim Kinderarzt geht es darum, den Kindern die Angst zu nehmen. Mit speziellen Einrichtungen sind die Kinder abgelenkt und freuen sich sogar auf den Arztbesuch», sagt er weiter. Die Kleinen finden es toll, sich zu verstecken oder irgendwo hineinzukriechen. In das Wartezimmer einer Kinderarztpraxis bauten sie in Zusammenarbeit mit der Schreinerei Holz & Wert aus Winterthur ZH ein gestandenes Baumhaus, in einer Praxis in Lachen SZ legte eine grosse Arche an. «Es biete sich an, ein Thema durch eine ganze Praxis zu ziehen. Oder man macht Themenzimmer. Denn welcher kleine Junge würde nicht gerne im roten Ferrari-Zimmer behandelt werden?»

Ruhe im Bienenhaus

Einen Rückzugsort für Schülerinnen und Schüler im betriebsamen Schulzimmer bietet die Lernwabe von Daniela Bär-Werner. Die Architektin war am Aufbau der Winterthurer Privatschule «Salzh» beteiligt und machte sich Gedanken darüber, wie ein speziell hoher Raum im Gebäude sinnvoll genutzt werden könnte. Da kam ihr die Idee, die benötigte Arbeitsfläche übereinander zu stapeln. Sie entwarf ein Wabengitter aus Holz, welches in die Höhe gebaut werden kann. Lehrer Marcel Hofmann nahm dann diese Idee auf, und baute für seine Klasse die ersten Waben stapelbar aus Holz und später auch solche aus Karton. Heute sind die beiden Geschäftspartner und Bär-Werner sagt: «Durch ihn habe ich erst das Produkt richtig zu entwickeln begonnen und diese effiziente Gitterstruktur entworfen.» Ein Knackpunkt bei der Entwicklung seien die Sicherheitsnormen gewesen: «Die Wabe ist weder Fisch noch Vogel und passt weder in die Kategorie Möbel noch Spielplatz. Wir nahmen damit eine Vorreiterrolle ein, was uns das Leben nicht immer einfacher gemacht hat», erzählt die vierfache Mutter weiter.

Gegen Aussenlärm und Einblicke

Bei dem Konstrukt werden nicht Einzelwaben gestapelt, sondern eine Wabenstruktur modular mit 24 mm dicken Birkensperrholzplatten durch den Schreiner aufgebaut. Die kleinräumigen Einheiten haben eine Tiefe von 710 mm, dämpfen den Aussenlärm und schirmen Einblicke ab. Die sechseckigen Kojen erlauben mit ihrem ergonomischen Winkel eine entspannte Körperhaltung zwischen Sitzen und Liegen. Da die Plattenverbindungen und Verschraubungen demontierbar sind, ist ein Umplatzieren der Wabenwand jederzeit möglich.

Mittlerweile wurden 60 Lernwaben verkauft. Sie sind nicht nur in Unterrichtsräumen, Tagesstrukturen und Kinderzimmern zu finden, sondern sie dienen auch als Rückzugsort in Wartesälen, Bürolandschaften oder Lobbys. Auch die Variante aus Karton ist unterdessen erhältlich. Sie kann zum Beispiel von Schulklassen zusammengebaut und bemalt werden.

Wie und wo sich der Nachwuchs auch austoben mag: Grundsätzlich brauchen die Knirpse nicht viel, um glücklich zu sein. Ein Tisch mit übergeworfener Decke wird zur geheimnisvollen Höhle, eine Wäschezaine zum Boot in stürmischer See. Gibt es im Spiel gleichzeitig noch mehr zu lernen oder es wird Hilfe und Schutz im Alltag geboten, kann beim Start ins Leben nicht mehr viel schiefgehen.

www.chantalbavaud.chwww.gehri.chwww.lernwabe.chwww.meierzosso.chwww.minneker-design.chwww.mond-holz.chwww.nanuu.ch

Isabelle Spengler

Veröffentlichung: 11. Februar 2021 / Ausgabe 7/2021

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