Holz wächst in die Höhe

Holz und trotzdem urban: das aufgestockte Gewerbegebäude in St.Gallen. Bild: Forrer Stieger Architekten AG

Verdichtung.  Wo in innerstädtischen Quartieren der Wohnbedarf gross und der Platz knapp ist, wird mit Aufstockungen nachverdichtet. Weil der Bestand oft nicht für weitere Belastungen ausgelegt ist, kommt vielfach nur eine Leichtbauweise in Holz in Frage.

Aufstockungen in der Stadt sind nichts Neues. Nimmt das Bevölkerungswachstum zu, geht es nach oben. Wie bereits im 15. Jahrhundert in Bern, als die berühmten Laubengänge durch Aufstockungen entstanden. In der aktuellen Diskussion um den knappen Wohnraum in Schweizer Städten wird auf das bewährte Rezept zurückgegriffen, unauffällig oder prominent platziert wie beim Transitlager in Basel. Laut einer Studie des Swiss Real Estate Institute, einer Forschungsstelle der Schweizer Immobilienwirtschaft, liesse sich allein durch die Aufstockung um eine Etage in den innerstädtischen Quartieren von Zürich Wohnraum für 41 000 Personen schaffen.

Holz ist für Aufstockungen prädestiniert. Das geringe Eigengewicht erlaubt mehrgeschossige Aufstockungen, ohne dass der Bestand aufwendig verstärkt werden muss. Hinzu kommen die rationelle Fertigung, die kurze Montagezeit auf dem Bau und die gute Energiebilanz. Holzkonstruktionen sind immer häufiger in der Stadt anzutreffen – wenn auch von aussen selten sichtbar.

Lücken füllen und Höhe ausnutzen

Aufstockungen umfassen häufig ein oder zwei Geschosse bis auf die Höhe der benachbarten Gebäude. «Doch das Potenzial für eine Erhöhung bis zur maximal zugelassenen Bauhöhe wird noch wenig genutzt», sagt Yves Schihin, Architekt und Mitinhaber bei der Burkhalter Sumi Architekten GmbH. Die maximale Höhe ausreizen und um vier oder fünf Geschosse aufstocken wäre aber gerade bei Verdichtungen in der Stadt interessant. Durch die bessere Ausnützung werden Baukosten schneller amortisiert und mehr Wohnraum an begehrten Wohnlagen geschaffen. Seit der Anpassung der VKF-Brandschutzrichtlinie im Jahr 2015 sind dem Holzbau nach oben kaum noch Grenzen gesetzt.

«Fill the gap» nennt Schihin Aufbauten bis zur ortstypischen Stadttraufe, «pile up» Aufstockungen über ebendieser. Mit der Aufstockung des ehemaligen Bahnbetriebsgebäudes Giesshübel in Zürich hatten Burkhalter Sumi Architekten 2013 ein prominentes Beispiel für eine viergeschossige Aufstockung mit Holz realisiert.

2016 wurde in St. Gallen im innerstädtischen Raum eine Aufstockung um fünf Geschosse mit Holz fertiggestellt. Für die sichtbare Holzfassade – ein Novum in dieser Bauzone – mussten Architekt und Bauherr einiges an Überzeugungsarbeit leisten.

Ein Gewerbegebäude wächst

Das St. Galler Gewerbegebäude aus den 70er-Jahren liegt inmitten einer Wohnzone, die sich in den letzten Jahren zum beliebten Quartier gewandelt hat. Der Besitzer des Massivbaus an der Röschstrasse entschloss sich deshalb, das Gebäude zum Wohnhaus umzunutzen und zu erweitern. Es sollte ein Mehrfamilienhaus mit fünf statt bisher drei Geschossen entstehen, es sollten aber auch die unteren Gewerberäume beibehalten und während der Bauarbeiten weiterbetrieben werden.

Ein vollständiger Rückbau wurde deshalb schon von Beginn an ausgeschlossen. Auch weil die Grundrissgeometrie durch den Strassenverlauf vorgegeben war und ein Abriss aufgrund der leichten Hanglage kostenintensiv geworden wäre. Die bestehenden drei Geschosse konventionell weiter aufzustocken, kam nicht in Frage, weil die Bausubstanz bereits ausgereizt war. «Für eine Aufstockung mit fünf Geschossen blieb nur die Möglichkeit der Leichtbauweise», sagt Jürg Stieger von Forrer Stieger Architekten in St. Gallen. Die Holzbauweise erfüllte nicht nur die Anforderungen an das Gewicht, sondern entsprach auch dem Wunsch des Bauherren, einen innovativen und zukunftsweisenden Bau zu realisieren. «Nachhaltig aufstocken und nachverdichten war ihm ein Anliegen», sagt Stieger. Der Bau sollte einen Anstoss geben, in St. Gallen vermehrt mit Holz zu bauen.

Vierendeel-System für Holzbau

Nach dem Rückbau der oberen drei Etagen wurden die zwei Sockelgeschosse unter Terrain marginal verstärkt. «Dank des geringen Gewichts der Holzkonstruktion blieben die Ertüchtigungsmassnahmen im Bestand gering», sagt Ivan Brühwiler, geschäftsleitender Holzbauingenieur bei der Josef Kolb AG in Romanshorn TG.

Eine Herausforderung stellte die horizontale Lastenabtragung in Bezug auf Windlasten und Erdbeben dar. Die Aussenwände boten infolge der regelmässigen Fensteranordnung nur wenig geschlossene Wandbereiche. Auch die Aussteifung mittels Innenwänden war nicht möglich. Als Lösung wurde die gesamte Holzfassadenkonstruktion als Vierendeel-System ausgebildet. Bei anderen Bauweisen ein gängiges System, ist diese Art der Gebäudeaussteifung im Holzbau eine Neuheit. Das System besteht aus den schmalen, vertikalen Bereichen zwischen den Fenstern und den horizontalen Fensterbrüstungen. Die Verbindung der Knotenpunkte mit einfachen Nagelplatten ermöglicht eine biegesteife Rahmenwirkung. Um möglichst wenig Knotenpunkte und eine optimale Steifigkeit in der Fassadenkonstruktion zu erhalten, wurden die vertikalen Vierendeel-Elemente vorgängig über die gesamte Höhe aufgestellt.

«Beim Holzbau richten wir gewöhnlich ein Stockwerk nach dem anderen auf. Der Ablauf mit dem Vierendeel-System war aufwendiger, aber für diese Ausgangslage die richtige Lösung», sagt Holzbauer Rico Kaufmann von der Kaufmann Oberholzer AG im thurgauischen Roggwil.

Sichtbare Holzfassade

Das Baugesuch für eine Naturholzfassade wurde von der Baubewilligungskommission anfänglich kritisch beurteilt. «Das Gebäude sollte einen massiven Ausdruck haben und der städtischen Lage gerecht werden», erklärt Pierre Brahimi, der stellvertretende Leiter des Amts für Baubewilligungen in St. Gallen, die damaligen Vorbehalte.

Die Architekten legten daraufhin eine detaillierte Argumentation für die Flächengestaltung vor, lieferten Fassadenansichten und erstellten Modelle. Auch ein Fassadenmuster im Massstab 1:1 wurde vor Ort montiert und von der Baubewilligungskommission besichtigt. Mit diesem Fassadenmuster konnte die Kommission von der Ausgestaltung mit Holz überzeugt werden: «Die flächige Struktur entspricht der innerstädtischen Zone, und der hellgraue Farbton passt sich in die Umgebung ein», sagt Brahimi. Auch wenn künftig Entscheide für oder gegen sichtbare Holzfassaden vom Kontext abhängig bleiben, hat der Holzbau an der Röschstrasse gezeigt, wie in einem Zusammenspiel zwischen Bauherr, Architekt und Baubewilligungskommission ein überzeugendes Ergebnis entstehen kann.

Ausnützung um 300 Prozent erhöht

Dass Holz bei Bauherren punktet, weiss Schihin aus mehreren Projekten. «Die baulichen Vorteile wie das geringe Gewicht und die hohe Vorfabrikation und Präzision der Bauteile sind mittlerweile bestens bekannt. Häufig sind es aber die Haptik und die ästhetische Qualität des Materials, was Bauherren überzeugt, mit Holz zu bauen.» Für die Überbauung des Areals Giesshübel erhielt das Architekturbüro gerade deshalb den Zuschlag, weil das bestehende Betriebsgebäude erhalten bleiben und mit zusätzlichen Geschossen nachverdichtet werden konnte. Das Objekt gilt als Paradebeispiel für eine Aufstockung mit Holz.

Die Ausgangslage war ideal: Der auf hohe, bewegliche Lasten ausgelegte Bestand erlaubte die Aufstockung um vier Geschosse. Die beiden Sockelgeschosse hatten zuvor als Lager- und Umschlagraum gedient und eigneten sich für die Umnutzung zu Büroräumen. In den beiden Sockelgeschossen wurden die Verwaltungsräume der Sihltal Zürich Uetliberg Bahn (SZU) eingerichtet, im Untergeschoss konnte die bestehende Relaisstation verbleiben. Diese zu verlegen, wäre ein grosser Aufwand gewesen.

Holz auf den zweiten Blick

Die Struktur des Sockels mit Rahmen von 11 Metern in Quer- und 5 Metern in Längsrichtung konnte für die Aufstockung übernommen werden. Das vereinfachte auch die Lastabtragung. Die Decken- und Wandelemente für die Holzbaugeschosse wurden vorfabriziert und konnten innert fünf Wochen im Rohbau aufgerichtet werden. Sockel und Holzbau wurden mit einer neuen Wärmedämmung überspannt und zu einem Ganzen verschliffen.

Die verputzte Aussenhaut erinnert an die mineralischen Fassaden in der städtischen Umgebung. Der Holzbau wird erst auf den zweiten Blick in den Untersichten und Trägern der auskragenden Balkone sichtbar. 24 Wohnungen wurden mit der Aufstockung realisiert. Dank der Einzigartigkeit der Wohnungen (zentrale Lage, freier Ausblick auf den Uetliberg und ein Lift, der direkt in die eigene Wohnung führt) konnte das Mietpreisniveau hochgehalten werden. Mit der Erhöhung der Ausnützung um 300 % werden die Investitionskosten entsprechend rasch amortisiert sein.

Holz hat Zukunft in der Stadt

«Der Werkstoff Holz gibt neue Impulse und trägt zur Diskussion über Bauten in der Stadt bei», sagt der St. Galler Stadtbaumeister Hans Ulrich Rechsteiner. Er schätzt das Aufkommen von Holz in der Stadt im Sinne einer ökologisch nachhaltigen Verdichtung, aber auch als Bereicherung der städtischen Architektur. Die Perspektiven für Holzbauten in der Stadt sind also gut. «Wir gewinnen mit Holzbaukonstruktionen im innerstädtischen Raum markant an Marktanteilen, insbesondere bei Mehrfamilienhäusern», sagt Holzbauer Kaufmann. Diesen Trend bestätigt auch Architekt Schihin, dessen Büro soeben einen Investorenwettbewerb in St. Gallen für über 100 Wohnungen in Holz gewinnen konnte.

www.burkhalter-sumi.chwww.forrerstieger.chwww.kaufmann-oberholzer.chwww.kolbag.ch

Gut zu wissen

Sieben Kriterien für eine gelungene Aufstockung

Mit Aufstockungen zu verdichten, ist in Schweizer Städten ein grosses Thema. Doch nicht immer lohnt es sich, den Bestand zu belassen und darauf aufzubauen. Yves Schihin von Burkhalter Sumi Architekten in Zürich hat sieben Kriterien formuliert, die erfüllt sein müssen, damit sich die Aufstockung im Vergleich zum Neubau lohnt. Und das nach wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Gesichtspunkten.

Standort

Ist die Lage attraktiv und das Mietzinsniveau hoch, können die Kosten für die Erweiterung rasch amortisiert werden.Ausserdem ist die Akzeptanz für die Nachverdichtung im Stadtzentrum bei der Bevölkerung viel höher als für die Verdichtung in den Aussenbezirken.

Sockel

Kann der Sockel die Aufstockung tragen? Der Bestand muss robust sein und ohne grosse Ertüchtigungen als Basis genutzt werden können. Sind grosse Verstärkungsmassnahmen nötig, ist die Aufstockung nicht rentabel.

Um- oder Weiternutzung

Robustheit alleine genügt noch nicht, der Bestand sollte eine Um- oder Weiternutzung leisten können. Die Fortführung des Gewerbebetriebs an der Röschstrasse oder der Einbau der Büros für die SZU im Giesshübel zeigen das exemplarisch (siehe Hauptartikel).

Konstituierte Elemente

Welchen Wert stellt der Sockelbereich für die Umgebung dar? Ist er ein konstituierendes Element und wirkt für das Quartier identitätsstiftend, dann bedeutet seine Erhaltung auch städtebaulich einen Mehrwert.

Lastenabtragung

Die Lastenabtragung der neuen Geschosse muss auf dem Bestand funktionieren. Innovative Lösungen erweitern die Möglichkeiten. Generell gilt aber: Je einfacher, desto besser.

Adressbildung

Wie werden Eingangssituation und Adressbildung für neue und bestehende Räume gelöst? Ein direkter Lift in die eigene Wohnung war im Giesshübel ein wesentliches Merkmal für die Vermietung der Wohnungen.

Mehrwert

Welcher Mehrwert wird durch eine Aufstockung geschaffen? Entstehen effektiv mehr Wohnungen und nicht bloss grössere und teurere Wohnflächen, trägt die Aufstockung zur Verdichtung bei. Und bei einer geringen Ertüchtigung des Bestandes werden im Vergleich zu einem Neubau bis zu 60 % graue Energie eingespart und 50 % weniger Treibhausgase ausgestossen.

Gelungene Nachverdichtungen erfüllen zudem wichtige soziale Anforderungen: Büros im Erdgeschoss tragen zu einer guten Nutzungsdurchmischung bei. Wenn unten gearbeitet und oben gewohnt wird, bleibt das Gebäude während 24 Stunden belebt.

ho

Veröffentlichung: 24. August 2017 / Ausgabe 34/2017

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